Projektübersicht

Kontext

Die europäische Expansion seit dem 15. Jahrhundert beruhte zum einen auf der Entstehung neuer transozeanischer Handelsbeziehungen, zum anderen auf der Kolonialisierung großer Teile der damals bekannten Welt mit Ausnahme Chinas und Japans. Der Zugang zu außereuropäischen Märkten brachte völlig neue Konsumgüter nach Europa, neben Gewürzen und Textilien vor allem die „neuen Rauschmittel“: Kaffee, Kakao, Tee, Tabak, Zucker und Tee. Diese Produkte veränderten Ernährungsweisen, soziale Gewohnheiten und Formen der Geselligkeit. Zugleich entbrannte eine Debatte über ihre toxischen und damit bewusstseinsverändernden Wirkungen, so dass die Forschung diese Entwicklung als erste „psychoactive Revolution“ bezeichnet. Der Handel mit diesen „neuen Rauschmitteln“ wurde zu einer wichtigen Stütze der entstehenden Weltwirtschaft, zugleich gründete der Anbau dieser Produkte auf Sklaverei und der Ausbeutung der von Europäern verwalteten Anbauregionen, insbesondere in der Karibik, und in Latein- und Mittelamerika.

Projekt

In einem zweijährigen Kooperationsprojekt der Universitäten in Oldenburg, Sheffield, Stockholm und Utrecht wird erforscht, wie der Konsum dieser neuen Rauschmittel zwischen 1600 und 1850 neue öffentliche Räume wie etwa die Kaffeehäuser in den bedeutendsten nordeuropäischen Hafenstädten Amsterdam, Hamburg, London und Stockholm hervorgebracht und neue Formen von Geselligkeit geprägt hat. Zugleich interessieren die sich verändernden Debatten um diese Rauschmittel, die zwischen gefährlich und subversiv oder angesagt und exklusiv changierten. Wurden diese negativen oder positiven Zuschreibungen, so eine weitere Frage, auf ihre Konsumenten und die Orte des Konsums übertragen und diese somit gesellschaftlich stigmatisiert? Und wer stand hinter dem Handel mit neuen Rauschmitteln? Wie gelangten sie in die großen Hafenstädte? Welche Rolle spielten die wirtschaftlich gut vernetzten Migranten, die ab dem späten 16. Jahrhundert vor allem nach Amsterdam und Hamburg, später auch nach London und Stockholm kamen, und welche Konsumgewohnheiten brachten sie aus ihren Herkunftsorten mit?

Der Einfluss von Kakao, Tee, Kaffee, Zucker und Tabak auf europäische Gesellschaften ist Zeichen einer ersten Welle der Globalisierung in der Frühen Neuzeit. Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungsarbeit liegt daher auf den oft ausbeuterischen internationalen Strukturen und Handelsbeziehungen, die der Produktion, dem Handel und dem Konsum dieser Produkte zugrunde lagen.

In internationalen Tagungen und Workshops, mit einer virtuellen Ausstellung sowie in der Zusammenarbeit mit Schulen, Museen, NGOs und internationalen Organisationen möchten wir zeigen, dass diese Fragestellungen eine wichtige historische Perspektive auf aktuelle Themen wie die „Verortung“ von Rausch- und Genussmitteln in unserer Gesellschaft und die Bedeutung von Menschen- und Warenströmen in einer globalisierten Welt eröffnen.

Fallstudien

Erforscht und verglichen werden soll der Einfluss der neuen Rauschmittel auf vier städtische Siedlungsräume zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert: Amsterdam, Hamburg, London und Stockholm. Diese Städte erfuhren zwischen 1600 und 1850 sowohl einen enormen ökonomischen Aufschwung als auch einen großen Bevölkerungszuwachs. Somit waren sie – so die Ausgangsthese – nicht nur Handelszentren, an denen Genussmittel aus den damaligen Kolonien angelandet, verkauft und weitervertrieben wurden, sondern ebenfalls Orte, in denen sich Konsumgewohnheiten und soziale Praktiken unter dem Einfluss dieser Waren etablieren und verändern konnten. Des Weiteren besaßen diese vier Städte eine zentrale Bedeutung für die Bildung einer Nord-und Ostseehandelszone, die sie mit dem atlantischen und asiatischem Raum verbanden.

Im Zentrum der Forschung stehen drei Themenkomplexe: (1) Die Rolle globaler Handelsnetzwerke sowie städtischer, regionaler und transregionaler Infrastrukturen für den Handel und die Verfügbarkeit der neuen Rauschmittel. (2) Menschenhandel, Sklaverei und Kolonialisierung als Voraussetzungen für die Produktion neuer Rauschmittel. (3) Die Entstehung und der Wandel städtischer Räume, verstanden als institutionelle und institutionalisierte, formelle und informelle oder auch soziale Orte, an denen diese Rausch- und Genussmittel verkauft und konsumiert wurden. Dazu zählen neben Wohnhäusern und Gaststätten auch Apotheken, Kaffeehäuser, Tavernen, Theater und Teestuben, Zünfte, Geschäfte und Messen, aber auch Bordelle, Opium-Höhlen und andere Vergnügungsorte, genauso wie der gewöhnliche Straßenraum und Marktplätze.

Methodik

Untersucht werden sollen diese Themenfelder mit Hilfe praxistheoretischer Ansätze. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich das Soziale erst durch soziale Praktiken konstituiert, die auf einem geteilten Wissen situativ angemessenen Verhaltens basieren. Erst im Vollzug sozialer Praktiken werden Personen, Dinge und Umwelt miteinander in Beziehung gesetzt, Deutungen sichtbar und Machtstrukturen und Abhängigkeiten manifestiert. Ein praxeologischer Blick betrachtet einzelne Handlungen als Teil übersubjektiver, kollektiver Handlungsmuster und Alltagsroutinen, die durch ihre Ausführung, Wiederholung oder Variation Bestätigung, Irritation oder auch Unverständnis hervorrufen. Aus dieser Perspektive sind auch gesellschaftliche Veränderungen nicht die Folge rational getroffener Entscheidungen oder Gesetzesänderungen, sondern vollziehen sich in einer Anpassung sozialer Praktiken an neue Herausforderungen und Möglichkeiten. Erst die verschiedenen Umgangsweisen mit und Bewertungen von neuen Rauschmitteln in der frühen Neuzeit haben neue Orte des Konsums, der Geselligkeit oder der Subversität geschaffen.

Kooperationspartner und Outreach

„Intoxicating Spaces“ kooperiert mit zahlreichen international ausgewiesenen Wissenschaftler*innen, die in einem Forschungsnetzwerk zusammen geführt werden sollen, und präsentiert die Forschungsergebnisse auf internationalen Konferenzen und in Publikationen.

Im Zentrum des Projekts stehen weiter Synergieeffekte zwischen Geschichtswissenschaft, Politik und Gesellschaft: (1) Der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in den öffentlichen Raum, (2) die Diskussion historischer Phänomene und ihrer Relevanz für die Einordnung und das Verständnis aktueller Herausforderungen  und (3) die Multiplikation und Nachhaltigkeit der Ergebnisse über die verschiedenen Kooperationspartner von „Intoxicating Spaces“.

Zusammen mit unseren Kooperationspartnern „UN-Habitat“  (United Nations Human Settlements Programme, Nairobi, Kenia) und „Mainline“ (Stichting Mainline Drugs and Health, Amsterdam) werden wir Experten aus Politik, Gesundheitswesen und Städteplanung in einem „Webinar“ und einem „Fast Talk“ zusammenbringen, um aktuelle Herausforderungen im Umgang mit Rauschmitteln zu diskutieren und um Impulse aus unserer historischen Forschung in die heutigen Debatten zu Konsum und Handel von Rauschmitteln in öffentlichen städtischen Räumen einzubringen.

Eine wichtige Multiplikatoren-Rolle dabei nehmen die Gymnasien und Oberschulen ein, die an allen vier Forschungsstandorten mit den Universitäten kooperieren. Für die Universität Oldenburg sind dies das Gymnasium Cäcilienschule und das Altes Gymnasium in Oldenburg und das Gymnasium in Neu Wulmstorf bei Hamburg. Die in dieser Zusammenarbeit entstehenden Schüler*innen-Projekte werden auf einem Workshop aller beteiligten Schulen aus Deutschland, England, Schweden und den Niederlanden in Amsterdam im Herbst 2020 präsentiert.

Zu den weiteren Partnern von „Intoxicating Spaces“ zählen ebenfalls große maritime und kulturwissenschaftliche Museen der beteiligten Länder:

In Kooperation mit diesen entsteht eine virtuelle Ausstellung, in der Dokumente und Objekte zum gesamten Themenspektrum von „Intoxicating Spaces“ präsentiert und mithilfe von Schlagworten durchsuchbar gemacht werden.

Nationaler Kontakt

Professor Dagmar Freist
Carl von Ossietzky Universität
Fakultät IV
Institut für Geschichte
Postfach 2503
D-26111 Oldenburg

dagmar.freist@uol.de
+49 (0)441 798-4640